International Film Festival Mannheim-Heidelberg 2012:
Lobende Erwähnung der internationalen Jury

Regisseure: Hsiu Chiung Chiang, Singing Chen, Wi Ding Ho und Ko Shang Shen

Vier junge taiwanesische Regisseure beschäftigen sich mit der Krankheit Alzheimer und drehen dazu einen Omnibus-Film. Das heißt alle vier drehen ihren eigenen Film, die zu einem einzigen zusammengefasst werden wie bei einem Omnibus, der anhält, um weitere Fahrgäste aufzunehmen. Trotz ihres jungen Alters schaffen sie es, die Krankheit und die Dilemmata, die diese für den Betroffenen und seine Umgebung mit sich bringt, aufzuzeigen. Der Film wurde daher – trotz des schlechten Rufs von Omnibus-Filmen wie der Direktor Michael Kötz erklärt – für den internationalen Wettbewerb des 61. Internationalen Filmfestivals in Mannheim-Heidelberg ausgewählt.

Zwei Filme sind jedoch besonders hervorzuheben. Im zweiten Film „Die Uhr“ schafft es eine ältere Frau, die von der Krankheit betroffen zu sein scheint, nach mehreren Anläufen aus ihrer eigenen Wohnung zu „entkommen“. Schließlich landet sie bei ihrem alten Nachbarn ihrer ehemaligen Wohnung. Sie vergisst, dass sie schon längere Zeit keine Nachbarn mehr sind und sich die Zeiten geändert haben. Wir erfahren von dem alten, aber noch recht gesunden Nachbarn, dass er der einzige ist, der in dem Haus verblieben ist und bis zu seinem Tod dort bleiben wird – egal wieviel Geld „die“ ihm anbieten. Offensichtlich hat sich die Frau in jüngeren Jahren dazu entschlossen für Geld ihre Wohnung zu verlassen und sich damit ein neues, gut abgesichertes Apartment gekauft, was ihr jetzt zum Gefängnis geworden ist.

Sie sucht zusammen mit ihm und ihrer Tochter, die sie gar nicht mehr erkennt und sie als „Miss“ anredet, in ihrer alten, fast ruinenhaften Wohnung nach einem Hinweis, wofür die Schlüssel, die sie um ihren Hals trägt, dienen könnten. Sie finden dabei eine Uhr, die sie gleich mit einem ihrer Schlüssel aufzieht. Wir sehen, dass sich Risse in der Wand auftun und die Tapete aufbricht. Sie wollen sie mit in ihre neue Wohnung nehmen. Beim Abhängen kommt ein weiteres Fach zum Vorschein. Allerdings stürzt beim Versuch, dieses Fach mit ihrem Schlüssel zu öffnen, die Wand der Wohnung ein. Damit sind die letzten Erinnerungen verloren, denn wie wir in der letzten Einstellung sehen, befanden sich darin Fotos aus ihrer Vergangenheit. So spiegelt der Verfall dieser Wohnung die Auflösung des Erinnerungsvermögens wider.

Als sich die Tochter mit der Mutter vom Nachbarn verabschieden, bittet die Tochter ihn bei ihrer Mutter einzuziehen. Doch er lehnt ab, da anscheinend ihre Mutter in dieser neuen Wohnung nicht zurecht komme – genauso wenig wie er es tun würde. Hinter ihm weht ein Transparent, auf dem die ehemaligen Bewohner ihr Wohnrecht bekräftigen. Obwohl er zwischen Ruinen haust, geht es ihm wesentlich besser als der alten Frau, die ihr Zuhause aufgegeben hat und damit auch ihre Erinnerungen. Ein wunderbar tiefgründiger und vielschichtiger Film, der Raum zur Interpretation lässt!

Der dritte Film „Ich wache auf in einem fremden Bett“ ist erstaunlicherweise ein sehr lustiger Film über einen normalen Tagesablauf eines Betroffenen – und das aufgrund der Story und Dialoge, aber auch wegen dem talentierten Hauptdarsteller, der eine unglaubliche Freude an den Tag legt, wenn er sich an etwas erinnert, selbst wenn es nur die Erinnerung an das eigenen Spiegelbild ist. So sieht man ihn erst aufwachen, anziehen und Zähne putzen. Das alles scheint sowohl motorisch als auch kognitiv für ihn anstrengend aber immerhin lösbar zu sein.

Nach dem Frühstück sehen wir ihn bald im Park auf der Bank sitzen und plötzlich sitzt neben ihm eine Frau, die ungefähr das gleiche Alter hat. Der Zuschauer ahnt natürlich, dass das seine Frau ist, er jedoch erinnert sich nicht an sie. Sie kommen ins Gespräch. Dann frägt sie ihn nach seinem ersten Date und es scheint, als könne er sich daran erinnern. Sie schlägt ihm vor, einen Kaffee zu trinken wie „damals“. Als sie im Café sitzen, fragt sie ihn, wie denn die Frau seines ersten Dates heiße. „Mary Grace“ antwortet er. Als sie ihm zu verstehen gibt, dass sie Mary Grace ist, wirkt er sichtlich überrascht und freut sich darüber, sie nach „so langer“ Zeit wieder zu sehen. Mary Grace hatte natürlich gehofft, er würde verstehen, dass sie schon seit langer Zeit verheiratet sind. Aber er kann sich eben nur an Mary Grace wie sie jung war erinnern. Trotzdem erleben die beiden einen schönen Tag miteinander. Abends, als ihre Tochter sie frägt, warum sie ihn nicht in ein Heim gäbe, antwortet sie: „Er erinnert sich nicht an mich, aber ich erinnere mich an ihn.“

Insgesamt ein Film, der Mut macht, sich mit dieser Krankheit, vor der sich jeder fürchtet, auseinanderzusetzen. Ohne Verurteilungen über Rabenenkel und –töchter erzählt er einfach nur Geschichten aus dem Leben und zwar so wie das Leben spielt: traurig und schön zugleich. Allerdings scheinen hier vor allem die Geschichten aus den privilegierten Schichten erzählt zu werden und lediglich „Die Uhr“ bettet das individuelle Vergessen in einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhang. Diese kulturelle Entwurzelung der Einzelschicksale macht insgesamt den Eindruck als könnten diese Geschichten ebenso an einem anderen Ort im Westen spielen. Vielleicht war dies aber auch so gewollt, denn diese Krankheit ist vor allem in den Ländern ein Problem, in dem der hohe Lebensstandard zu einer höheren Lebenserwartung führt und damit auch zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit einer altersbedingten Demenz. Nichtsdestotrotz ein gelungener Film über ein schwieriges Thema.

 

Autorin: Esther Glück (social scientist at University of Duisburg-Essen)

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